Die Frühphase des künstlerischen Schaffens (1908 – 1920)
Es ist schwierig, die sehr häufig undatierten Werke in einer Chronologie unterzubringen und die datierten Werke geben nur wenig Anhaltspunkte für die Rekonstruktion eines ästhetischen Werdegangs im langen Schaffens R. Kündigs. Den Beginn einer näheren Beschreibung seines Lebens setzt daher mit seiner künstlerischen Frühphase ein. Zwischen 1908 und 1920 lassen sich allerdings drei Phasen unterscheiden: die eigentliche Frühphase 1908 – 1910, die expressionistische Phase 1910 – 1913 und die letzten Wanderjahre, Weltkrieg und Familiengründung 1913 – 1920.
1908 unternimmt Kündig mit Hermann Huber und malenden Zeitgenossen eine Reise nach Rom, die etwas ziellos bleibt und geradeso einer
allgemeinen Abenteuer- und Entdeckungslust wie einer malerischen Weiterbildung dient. Der Besuch der Hafenstadt Terracina, zwischen Rom und Neapel gelegen, beeindruckte Kündig nachhaltig. Mehrmals kehrte er mit seiner Familie dorthin zurück. Der
Rückkehr in die Schweiz folgen prekäre materielle Verhältnisse und der Künstler zieht sich nach Gfell bei Sternenberg im Zürcher Oberland zurück. Während eines Parisaufenthalts mit H. Huber im Winter 1910/11 sieht Kündig
zum ersten Mal Originale von Picasso und der Fauves, was eine entscheidende, wenn auch kurzweilige Neuorientierung in der Darstellungstechnik mit sich bringt. „Die Farben gewinnen eine expressive Leuchtkraft, der Auftrag ist heftig-pastos und die
Landschaftsmalerei erfährt eine flächenhaft-dekorative Abstraktion.“[1] Er besucht nochmals Rom und Terracina und wird noch im selben
Jahr Mitglied des "Modernen Bundes". 1912 nimmt er in Zürich an einer der ersten Ausstellungen der avantgardistischen Künstlergruppe teil, wo neben Werken von Hans Arp, Wilhelm Gimmi, Walter Helbig, Hermann Huber, Oscar Lüthy und Emil Sprenger
auch erstmals Werke des Blauen Reiters dem Schweizer Publikum vorgeführt werden.
Aus dieser Zeit stammen die elf Bogenfelder für die Eingangshalle des Universitätsneubaus sowie die Wandfresken für das Letten-Schulhaus in Zürich.
Die Wandmalereien finden jedoch wenig Beifall. Während sich die Arbeiten in der Universität erhalten haben, werden die Bogenfelder mit den Kindermotiven im Schulhaus Letten auf Beschluss der Lehrerschaft bereits zwei Jahre nach ihrer Entstehung wieder
entfernt.[2]
„Die frühen Ölgemälde weisen eine gebrochene Farbigkeit auf, die um 1910 unter dem Einfluss van Goghs und des Fauvismus einem expressiveren Kolorit weicht; der Pinselduktus lockert sich auf und wird vorübergehend heftig-pastos. Der Zyklus der elf Bogenfelder in der Universität Zürich zeigt flächige, stark farbige Figurenbilder, die eine Berührung mit dem Werk von Meyer-Amden erahnen lassen und sich harmonisch in die Architektur einfügen. Laut Überlieferung durch Künstlerkollegen äusserte sich Kündig rückblickend kritisch zu seiner expressiven Werkphase, die aus heutiger Sicht jedoch einen Höhepunkt in seinem Œuvre darstellt“.[3]
Für die Abkehr von dieser Malphase gibt es zweierlei Mutmassungen; „[Die Zeit in Paris, N.A.]muss ihn ziemlich durcheinander gebracht haben, denn erstmals trat er in Berührung mit der Avantgarde. Er hat sich auch mit ihr auseinandergesetzt; [das zeigt] das abstrakte Bild, das Zeit seines Lebens im Atelier hing, so als ob er sich immer daran erinnern wollte, dass er das auch könne [...] Nach diesem Aufenthalt in Paris, hin- und hergerissen von all den Einflüssen, rang er sich zu der Erkenntnis durch, dass er seinen eigenen, seinem innersten Wesen entsprechenden Weg gehen müsse.“[4] Diesem Folgen eines Wegs der „inneren Notwendigkeit“ kontrastiert die Vermutung, dass es sich bei der Hinwendung zur nicht-expressionistischen Malerei in erster Linie um ein kommerzielles, verkaufstechnisches Motiv handelte und sich folglich der Absatz expressionistischer Malerei als allzu schwierig herausstellte.
Es folgen weitere Wanderjahre; er zieht zusammen mit seinem Freund Hermann Huber ins Wallis, dem folgt im Winter 1913–14 ein Vierteljahr in Tunis, dann bis 1916 ein Wohsitz in Arth LU. Nach der Heirat mit Hermann Hubers Schwester Hedwig 1916 wohnt das Paar auf der Baldern am Uetliberg. Dort kommt Kündigs Tochter Hedwig (1918) zur Welt. Während des ersten Weltkriegs diente Kündig immer wieder als Trainsoldat am Gotthard. Ab 1920 wohnte das Ehepaar in der Spreuermühle im Hirzel, wo Kündigs zweite Tochter Anna (1920) geboren wurde.[5]
1920 – 1937 der Landschaftsmaler vom Hirzel
In den Jahren auf der Spreuermühle gelang es Reinhold Kündig definitiv sich als Kunstmaler zu etablieren. Die anfänglich noch sehr natur- und detailgetreuen Ölbilder, die mit dem Pinsel gemalt wurden, werden sukzessive durch Bilder mit neuer Technik ergänzt. Die Berg- und Felsstudien aus Saas Fee bieten einen ersten Höhepunkt dieser neuen Malweise, bei der die Bilder erst aus der Distanz zu wirken beginnen. Diesen Stil, dem er im wesentlichen bis an sein Lebensende treu blieb, und der seinen Bilder eine gewisse Unverwechselbarkeit verlieh, bringt Schrödter mit Gustave Courbet in Verbindung:
„Unter dem Einfluss der tonigen Landschaften von Courbet und dessen pastosem Farbauftrag tritt in den 1920er-Jahren eine Wende in Kündigs Schaffen ein. Der Künstler findet zu einem eigenen Stil, ersetzt den Pinsel durch den Spachtel und trägt die Ölfarbe in mehreren Schichten auf. Ohne einer naturalistischen Detailtreue zu folgen, werden die Landschaften durch eine atmosphärische Gegenständlichkeit charakterisiert. Kündigs Betonung der Farbwerte befreit den Gegenstand von seinem materiellen Wert und lässt ihn als blossen Farbträger in den Hintergrund treten.[6]“
Auch Fluor-Bürgi weist auf die zentrale Bedeutung Courbets für R. Kündig hin: „Eine künstlerisch entscheidende Wende bringt die Auseinandersetzung mit Gustave Courbet in den zwanziger Jahren. Im Werk des französischen Realisten sieht er seine eigene Auffassung und Anlagen bestätigt. Die Landschaft, schon zuvor zentrales Thema im künstlerischen Schaffen Kündigs, wird wieder tonig, realer, das Kolorit erdig, zurückhaltend. Von entscheidender Auswirkung ist der Gebrauch des Spachtels anstelle des Pinsels. Kündig bringt die Farbe mittels Spachtel in mehreren Schichten auf, so dass die obere, poröse Farbschicht die unteren stellenweise durchschimmern lassen. Formen und Umrisse ergeben sich aus dem Zusammentreffen der Farbe. In den unprätentiösen, vor den Türen seiner jeweiligen Wohnstätten entstandenen Landschaftsbildern sowie in Stilleben und Figurenbildern geht es Kündig nicht um naturalistische Detailtreue, sondern um Atmosphäre, um die Wiedergabe von Jahreszeiten oder das Wirken des Menschen in der Landschaft. Er, der noch 1910 in seinem Tagebuch schreibt: "Ich bin in jeder Beziehung voll Zweifel, wie der Käs voll Löcher", hat nach eigenem Dafürhalten die ihm gemässe künstlerische Sprache gefunden. Innerhalb ihrer Grenzen, die er bis zum Tod im hohen Alter von 96 Jahren nicht mehr überschreitet, fühlt er sich geborgen[7].“
Die Bilder dieser Schaffensphase sind noch von einer deutlichen Darstellungsweise geprägt, die alle wesentlichen Blickpunkte der Hirzler Landschaft umfassen. In dieser Zeit konnte sich Kündig soweit etablieren, dass er Land erwerben und ein Haus bauen konnte. Dazu ist die Anekdote überliefert, dass er zuerst um Land auf der Gumpi anfragte, jedoch mit der Begründung abgewiesen wurde, dass ein katholischer Bauer sicher keinem Reformierten Land verkaufen würde, er wolle ja nicht, dass seine Kühe verhext werden... Beim reformierten Bauern Paul Steiner wurde er schliesslich fündig und baute sich 1937 sein Wohnhaus mit dazugehörigem Atelier an einen Ort mit beeindruckendem landschaftlichen Ausblick: die Hinterrüti ob Horgen, wo seit 1993 seine Enkelin in seinem Malatelier ein Konzertlokal betreibt (www.hinterrueti.ch).
1937 – 1945 die geistige Landesverteidigung
Während der Zeit des Zweiten Weltkriegs zeigen seine Werke vermehrt idealisiert dargestellte Bauern und einfache Leute bei Feldarbeiten. In diese Zeit fällt eine Vielzahl an Zeichnungen und Illustrationen für Jahrhefte, Zeitschriften und Kalender. Die dargestellten Personen sind ausnahmslos vital, gesund, aufrecht und tatkräftig geschildert, die Landschaft wird kontrastierend dazu dargestellt; kahle Bäume, apere Äcker und bloss angedeutete Panoramen dominieren. Die Landschaftsbilder aus dieser Zeit sind tendenziell düsterer, weite Blickwinkel dominieren, die Bedrohlichkeit der Kriegsatmosphäre scheint ganz subtil in die Landschaft und in die Lichtverhältnisse integriert.
1945 – 1984 das eigentliche Spätwerk
Kündig selbst erklärte, in seinem Schaffen sei keine Entwicklung feststellbar, seine Ausdrucksweise sei sich im Wesentlichen treu geblieben.[8] Es kann einem bei der Einschätzung des Alters eines Kündig Bildes ohne weiteres passieren, dass man zwanzig, ja dreissig Jahre daneben liegt, dies insbesondere bei den Landschaftsbildern vom Hirzel und Horgenberg. Kienast hebt eine eigentliche Spätphase des Schaffens hervor, die er auf 1970 – 1984 datiert. In dieser habe sich Kündig eine Freiheit abgerungen, die sich durch ein Wegnehmen naturalistischer Details und einer stärkeren Hinwendung auf das Wesentliche auszeichne. „Die dichte, kräftige und doch transparente farbige Materie, die für Kündig schon immer charakteristisch war, ist zusehends feiner, schwebender geworden, die frühere Krustigkeit ist ihr ein Stück weit abhanden gekommen. [...] Etwas Traumhaft-Geheimnisvolles, früher vor allem in den aus der Erinnerung gemalten Nacht- und Winterbildern enthalten, durchdringt jetzt auch manche der vor der Natur gemalten Bilder.“[9]
Das beinahe 40 Schaffensjahre umfassende Spätwerk lässt sich als eine fortlaufend intensivierende Herangehensweise an die unmittelbar ihn umgebende Landschaft begreifen. Die atmosphärischen Feinheiten der Jahreszeiten, die Stimmungen und die landschaftlichen Eigenheiten des Horgenbergs sind in zahlreichen Bilder festgehalten, von denen einige das Prädikat Meisterwerk vorbehaltslos verdienen. Ergänzt werden die zahllosen Landschaftsbilder durch eine grosse Anzahl an Porträits, Selbstportraits, Stilleben, sowie Landschafts-Aquarellen und Zeichnungen.
Die Maltechnik dieser Zeit hat seine Tochter Hedwig Alther folgendermassen beschrieben:
„Ich habe mich immer gewundert, wie er ein Bild begonnen hat, für den Zuschauer ganz unverständlich. Er war eben kein Graphiker, d.h. auch, dass seine Zeichnungen Malerzeichnungen sind. Lange und intensiv betrachtete er sein Motiv, dann entstand da ein schwungvoller Pinselstrich, dort ein Farbauftrag – man sah, dass er das Ganze im Auge hatte und sich an keine Einzelheiten hielt, die ergaben sich später. Man konnte nichts Gegenständliches erkennen und doch war alles in den Umrissen schon vorhanden. Langsam wuchs so ein Bild gleichsam aus sich heraus. [...] Ich meine, er malte nicht die Natur der Dinge, sondern ihre Seele.“[10]
Kündig verwendete eine relativ geringe Zahl von Farben, und mischte viele Farben fortwährend auf der Palette: „Mit der Zeit merkt man, dass man eine bestimmte Farbe besser mit anderen wiedergibt, als mit ihr selbst.“[11] Er war ein relativ schneller Maler, dem es gelang, ein grösseres Landschaftsbild in zwei drei Sitzungen zu Werke zu bringen.
Als übergeordnetes Motiv in seinem Schaffen bringt eine Naturinnigkeit, eine Liebe zur Natur, der Glaube an dieselbe vielleicht auch eine Erklärung für Kündigs Entwicklungslosigkeit. Es ist ein Nicht-anders-können, und dies nicht auf einer technischen Ebene, sondern bezüglich seines künstlerischen Innenlebens. Peter Kienast umschrieb das künstlerische Glaubensbekenntnis des Künstlers: „Dass die Kunst aus „letztlich unergründlichen, geheimnisvollen Quellen“ stamme, das zu wiederholen wird der Maler nie müde. Der Hinweis auf die irrationale Wurzel, die wohl jeder echten Kunst zugrunde liegt, führt in die Nähe der stillen, aber zweifellos starken Religiosität des Künstlers, ohne die sein Schaffen nicht denkbar wäre.“[12]
Kündig selbst stellt in einem Vorwort zu einem Ausstellungskatalog 1962 die „innere Notwendigkeit“ des Malens als Antwort auf die Frage, weshalb er überhaupt male, ins Zentrum: „Soweit ich mich erinnern kann, steht ein unbegrenztes Vertrauen zur Natur da. Einzig während der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, als ich unschlüssig war, mich einer anarchistischen Zelle oder einer religiösen Gemeinschaft anzuschliessen, schwankte dieser Glaube und ging irre. Doch nachher bekam kein anderes Begehren grössere Macht als dieses: der grossen, rätselhaften und schönen Spur der Schöpfung zu folgen.“[13]
Noch im Frühjahr 1984, mit mehr als 96 Jahren, malte er sein letztes Bild, blühende Apfelbäume vor einem schwirrend-atmosphärischen Hintergrund, in dem sich alles auflöst, Licht und Farbe wird. Kündig starb am 16. Juni 1984 und sagte bis zuletzt, dass er was das Malen betreffe, immer noch am lernen sei.
„Man muss die Natur lieben, um sie so malen zu können, wie Kündig es tut. Jedes andere Verhältnis bringt nicht das, was diese dem Zürcher Maler entgegenbringt. Ob in der Landschaft, in Wiesen, Äckern, Bäumen; ob in Blumen oder Früchten: überall strömt dem Betrachter die gleiche Erlebnis-Intensität entgegen. [...] Und doch [ist es] keine routinierte, keine selbstverständliche Liebe. Sie wäre weder glaubhaft noch echt, wenn ihr – bei aller Konstanz – die Spontaneität fehlen würde, die Kindlichkeit; die Naivität, alles so zu erleben als sei es das erste Mal. [...] Jedes Mal neu geht es um das, was niemals alt ist: um das Wesen der Dinge. Man muss Vertrauen in die Natur haben, um sie so malen zu können, wie Kündig sie malt.“[14]
„Die an unser Gefühl appellierende, stille und nachdrückliche Wirkung, die von seinen Gemälden ausgeht, wird getragen von einer starken Empfindung für das Licht. Es ist der eigentliche Träger der Bildstimmung. Es hüllt die Dinge ein, lässt sie köstlich aufleuchten und verzaubert sie und den Beschauer. Ein warmer Atem geht von diesen eigentümlich naturhaften Malereien aus.“[15]
Quellenverzeichniss
[1]Fluor-Bürgi, R. In: http://www.sammlungonline.kunstmuseumluzern.ch/eMP/eMuseumPlus
[2]Vgl.Fluor-Bürgi, R. In: http://www.sammlungonline.kunstmuseumluzern.ch/eMP/eMuseumPlus
[3] Schrödter, S., 1998: In: http://www.sikart.ch/kuenstlerinnen.aspx?id=4001031
[4] Alther, Hedwig, 1994: Aus einem unveröffentlichten Vortragsmanuskript.
[5]Schrödter, S., 1998: In: http://www.sikart.ch/kuenstlerinnen.aspx?id=4001031
[6]Schrödter, S., 1998: In: http://www.sikart.ch/kuenstlerinnen.aspx?id=4001031
[7]Regine Fluor-Bürgi in: http://www.sammlungonline.kunstmuseumluzern.ch/eMP
[8] Vgl. Kienast, P., in: Reinhold Kündig, Wolfsberg Verlag, 1982: 13.
[9] Ebd.
[10] Alther, H.1994: Unveröffentlichter Vortrag.
[11] Kienast, P., in: Reinhold Kündig, Wolfsberg Verlag, 1982: 15.
[12] Ebd.: 17.
[13] Alther, H.; 1994: unveröffentlichter Vortrag.
[14] Marxer, P. In: Reinhold Kündig. Wolfsberg Verlag, 1982: 9f.
[15] Hugelshofer, W. In: Reinhold Kündig, Wolfsberg Verlag, 1982: Klappentext.